Marion Goedelt

 

 

 

 

 

 

 

     Der

gelbe

    Storch

Erzählt von

Elisabeth Simon

In China lebte vor langer Zeit ein armer Student. Er hieß Mi. Er war so arm, dass er sich nicht einmal eine Tasse Tee kaufen konnte. Aber weil Mi immer freundlich war, hatte der Wirt einer Teestube Mitleid mit ihm. Er schenkte ihm jeden Tag eine Tasse Tee und eine Schale Reis, sonst wäre Mi verhungert. Auch durfte der Student umsonst bei dem Wirt wohnen.

So ging es lange Zeit.

Eines Tages aber packte der Student seine wenigen Sachen zusammen und verabschiedete sich vom Wirt. Er dankte ihm tausend Mal. „Ich werde nun fort gehen“, sagte er. „Ich habe nichts, um meine Schulden zu bezahlen.

Aber ich kann dir etwas von mir hier lassen, das dir vielleicht nützlich sein wird.“

Er zog ein Stück gelber Kreide aus der Tasche und zeichnete damit einen Storch an die Wand. Er war so schön gezeichnet, dass er beinahe wie lebendig aussah. Nur war er ganz gelb. „Dies ist mein Geschenk für dich!“, sagte der Student. „Wenn am Abend viele Menschen hier sind und Tee trinken, müsst ihr alle drei Mal in die Hände klatschen, dann wird der Storch für euch tanzen. Doch lasse den Storch niemals nur für einen Menschen alleine

    tanzen, dann verschwindet      er für immer.“

Mi war fort und das Leben in der Teestube ging weiter. Die Menschen kamen und gingen und gewöhnten sich an das Bild des Storches. Als es an einem Abend besonders voll war, erinnerte sich der Wirt an die Worte Mi’s.

Er trat vor die Gäste und sagte: „Lasst uns alle drei Mal in die Hände klatschen!“ „Klapp, klapp, klapp!“ Die Gäste klatschten laut und fröhlich in ihre Hände. Da stieg plötzlich der gelbe Storch von der Wand herab. Er breitete seine eleganten Flügel aus und begann zu tanzen.

Er tanzte durch die ganze Teestube, er schwebte zwischen den Menschen hin und her, berührte sie zart mit seinen Flügelspitzen und kehrte dann wieder zurück an seinen Platz an der Wand.

Die Leute saßen da wie verzaubert. Es war eine Ruhe und ein Frieden über allen und glücklich verließen sie die Teestube. Doch draußen erzählten sie ihren Freunden, dass sie ein Wunder erlebt hatten. Da drängten am nächsten Abend viele Menschen in die Teestube und wollten den tanzenden Storch sehen. Es sprach sich schnell herum und von nun an war die Teestube jeden Abend voller Gäste, die von nah und fern kamen. Bald war der Wirt ein wohlhabender Mann.

Auch in der Hauptstadt hatte man von dem Wunder gehört. Eines Tages kam der Verwalter des Kaisers zum Wirt. Er war reich und mächtig. „Ich will deinen Storch sehen“, sagte er zum Wirt. „Er soll alleine für mich tanzen“ und er legte einen Beutel mit Gold auf den Tisch. Konnte der Wirt das viele Gold ablehnen? Er konnte es nicht. Er ließ alle Leute aus der Stube jagen und klatschte drei Mal in die Hände: „Klapp, klapp, klapp“.

Da stieg der Storch von der Wand. Aber seine Flügel hingen müde herab und er konnte sie kaum ein wenig auseinander falten. Er drehte sich langsam ein paar Mal um sich selbst und stieg dann wieder an seinen Platz an der Wand.

Der Verwalter tobte. „Soll das alles sein? Du bist ein Betrüger!“ Der Wirt klatschte noch einmal in die Hände, und wieder und wieder. Aber der Storch rührte sich nicht mehr.

In der Nacht klopfte es an die Tür des Wirts. Im Dunkeln erkannte der Wirt den Studenten Mi. Ohne etwas zu sagen, ging Mi zur Wand mit dem Storch, zog eine kleine Flöte heraus und spielte eine traurige Melodie. Da stieg der Storch von der Wand herab und leise gingen Mi und der Storch zur Türe hinaus und verschwanden in der dunklen Nacht und niemand hat sie jemals wieder gesehen.

 

Diese Geschichte haben uns die alten Leute erzählt. Sie wussten, wie das mit den Wundern ist: Wunder sind immer für alle da. Wenn einer ein Wunder für sich alleine haben will, dann verschwindet es für immer.

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