Der 

Unglücksrabe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marion Goedelt

 

Erzählt von 

      Elisabeth Simon

Es war einmal ein armer Sacknäher. Er tat nichts anderes, als Tag für Tag grobe Säcke zusammen zu nähen. Die Bauern brauchten sie für Korn,

Zwiebeln und Mais

und die Fischer

für Fische. 

Mit seiner Arbeit konnte der Sacknäher kaum seine Familie ernähren. Solange der Mann arbeitete, von morgens bis abends, sang er immerzu das gleiche Liedchen: „Ich bin selber schuld, ich bin selber schuld.“

Einmal kam der König vorbei und hörte ihn singen „Ich bin selber schuld, ich bin selber schuld!“. So sang der Mann. Auf dem Weg zurück hörte der König wieder den Singsang des Sacknähers: „Ich bin selber schuld!“ Da ging der König in das Häuschen des Sacknähers hinein. „Was singst du da die ganze Zeit?“, fragte er den Mann.

„Ach“, sagte der Sacknäher, „lieber Herr König, ich bin ein armer Mann und mein Schicksal ist es, immer arm zu bleiben. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Doch ich habe eine Frau und drei Kinder und es ist schlimm, dass ich nicht genug Brot herbei schaffen kann. Aber ich weiß nun, dass ich selbst schuld bin. Deshalb singe ich.“

„Erzähle mir deine Geschichte“, sagte der König.

 

Da sprach der Sacknäher: „Einmal bat ich Gott mir zu sagen, weshalb ich solche Armut leiden muss. Da zeigte mir Gott viele Wasserquellen. Manche waren groß und kräftig und viel Wasser schoss aus ihnen hervor. 

Andere waren klein und nur wenig Wasser tröpfelte heraus. Die Quellen waren Menschenleben. Wo

viel Wasser floss, ging

es den Menschen gut. 

Gott zeigte mir meine Quelle

und sie war ganz klein und

wenig Wasser floss heraus. Da nahm ich ein Hölzchen und versuchte damit die Öffnung der Quelle zu vergrößern, dass mehr Wasser daraus hervor fließen könnte. Aber das Hölzchen blieb in der Öffnung stecken. Jetzt kam noch weniger Wasser heraus, es tröpfelte nur noch. Nichts konnte mehr helfen und ich war selbst schuld, dass es nun noch schlechter geworden war als zuvor. Deshalb singe ich nun immerzu den Vers.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der König ging schweigend hinaus. Am nächsten Tag kam ein Bote 

aus dem Schloss zum Sacknäher. „Der König lässt dich grüßen und das soll ich dir bringen“, sagte er und übergab ihm eine Fleischpastete auf einem Teller. Der Sacknäher betrachtete die Pastete. „Was soll ich mit einer Pastete?“, dachte er. „Ich habe fünf Mäuler zu stopfen, da ist eine Pastete zu wenig.“

 

Deshalb ging er mit der Pastete zum Koch des großen Wirtshauses nebenan und sagte zu ihm: „Ich gebe dir diese herrliche Fleischpastete. Gib du mir dafür eine Tasche voller Brot und gekochtes Gemüse, damit meine Familie satt wird.“ 

Der Koch tauschte also die Pastete für Brot und Gemüse und war zufrieden. Als er aber die Pastete aufschnitt, fielen ihm lauter Goldstücke entgegen. Da freute er sich, steckte das Gold in die Tasche und behielt es für sich.

 

Am nächsten Tag kam der König wieder am Haus des Sacknähers vorbei und wieder hörte er den Mann sein altes Liedchen singen. 

Am gleichen Abend noch schickte der König dem armen Mann eine gebratene Gans.

„Was soll ich mit einer Gans?“, sagte der Sacknäher. „Sie wird 

nicht lange reichen für fünf hungrige Mäuler. Ich will sie dem Koch bringen und sie nochmals für Brot und Gemüse eintauschen.“ Als der Sacknäher zum Koch kam, war der hoch erfreut. Er füllte dem Sacknäher eine Tasche mit altem Brot und gab ihm auch noch gekochtes Essen dazu. Die Goldstücke, mit denen die Gans gefüllt war, behielt er für sich. Am folgenden Tag ging

der König wieder am

Haus des Sacknähers

vorbei und hörte

wieder dessen

Lied. Da wunderte

er sich sehr, denn er glaubte, er hätte den Mann nun reich gemacht. Er trat wieder in das Häuschen ein. „Wie geht es dir?“, fragte er ihn. „Ich habe dir eine Pastete und eine Gans bringen lassen.“

 

„Ich danke dem Herrn König sehr“, sagte der Sacknäher. „Aber was soll ich mit einer Pastete und einer Gans?“ Und nun erzählte er, dass er die Pastete und die Gans beim Koch gegen Brot und Gemüse eingetauscht hatte. 

Da dachte der König: „Der Mann ist wirklich ein Unglücksrabe.“

Am nächsten Abend schickte der König zwei Diener mit einem Säckchen voller Goldstücke vorbei. Sie sollten das Säckchen gut sichtbar auf die Brücke legen, über die der Sacknäher gehen musste, wenn er nach Hause wollte. Die Männer legten sich unter die Brücke und beobachteten, was geschah. Endlich kam der Sacknäher.

Aber er blieb vor der Brücke stehen und sagte dann laut zu sich selbst: „Nun bin ich mein Leben lang über diese Brücke gegangen. Heute will ich mal die

Augen schließen

und versuchen

blind hinüber

zu gehen. 

Das müsste ich doch können nach so vielen Jahren.“ Also schloss er die Augen und ging blind über die Brücke. Natürlich konnte er da auch das Säckchen mit Goldstücken nicht finden.

Da ließ der König den Mann am nächsten Tag in sein Schloss rufen. „Du bist wirklich ein Unglücksrabe“, sagte er zu ihm. „Bei der Pastete und der Gans konntest du nicht wissen, dass sie mit Goldstücken gefüllt waren. Aber warum schließt du denn die Augen, wo ich doch für dich ein Säckchen mit Gold auf den Weg habe legen lassen? Ich wollte dich zu einem reichen Mann machen.“

 

Traurig ließ der Sacknäher die Schultern hängen. „So ist es immer mit mir“, sagte er. „Ich mache immer das Falsche!“

Da ließ der König den Koch rufen. „Du bist ein Betrüger und ein Dieb!“, sagte er zu ihm. „Du hättest den Reichtum aus der Pastete und der Gans wenigstens mit dem Sacknäher teilen müssen.“ Der Koch musste die Goldstücke herbei holen und der König gab sie dem Sacknäher zusammen mit dem Säckchen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

„Geh nun“, sagte der König zum Sacknäher, „und lebe gut mit deinem Reichtum. Aber singe nie mehr dieses dumme Lied!“

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